Innovation

„Die Neugier darf nicht sterben“

Ingo und Carsten Rückert wissen, dass sie eine mittelständische Firma wie Wilhelm Dreusicke regelmäßig neu erfinden müssen, damit sie zukunftsfähig bleibt. Zuletzt war es wieder so weit: Den Brüdern gelang der Einstieg in die Robotik.

Ingo (l.) und Carsten Rückert, Geschäftsführer der Wilhelm Dreusicke GmbH & Co. KG, begutachten ihren neuen "Cobot"

Die Wilhelm Dreusicke GmbH & Co. KG ist 109 Jahre alt. In diesem Zeitraum musste sie sich immer wieder wandeln, um überleben zu können. Mit mechanischen Schreibmaschinen, den Ursprüngen des Unternehmens, würden heute keine hohen Umsätze mehr erzielt werden. Bereits in ihrer Jugend haben die Brüder Carsten und Ingo Rückert miterlebt, wie ihr Vater mit neuen Geschäftsfeldern die Existenz sicherte. Heute sind sie selbst dafür verantwortlich, mit Innovationen den Betrieb auf Kurs zu halten.

Berliner Wirtschaft: Sie sind jetzt schon seit rund 25 Jahren Geschäftsführer Ihres Unternehmens, und zwar in dritter Generation. Ist es eine besondere Drucksituation, ein so traditionsreiches Unternehmen in der Spur halten zu wollen?

Carsten Rückert: Wir haben vom Kindesalter an mitbekommen, dass sich in einer Technologie-Firma alle zehn bis 20 Jahre die Schwerpunkte ändern. Es ist für uns also relativ normal, dass wir eigentlich immer über neue Standbeine nachdenken. 

Wie ging es dem Unternehmen, als Sie es zu Beginn dieses Jahrhunderts übernommen haben?

Ingo Rückert: Eigentlich ganz gut. Unser Vater hatte gerade die Weichen für die nächste Dekade gestellt. Mitte der Neunzigerjahre waren wir noch sehr mit der Produktion von Gummiwalzen und Leiterplatten für elektronische Schreibmaschinen beschäftigt. Aber es war klar, dass das zu Ende gehen würde. Unser Vater ist dann Kunden in neue Produktbereiche gefolgt. So haben wir dann Walzen für Geld- und Parkautomaten sowie für Etikettendrucker hergestellt. 

Carsten Rückert: Und jetzt sind wir wieder in einem Wandel. Da der Bargeldverkehr abnimmt, werden weniger Geldautomaten produziert. In Parkgaragen kann zunehmend auf Parkautomaten verzichtet werden, weil eine automatische Kennzeichenerfassung eingeführt wird. Dafür werden aber immer mehr Etikettendrucker benötigt, weil so viele Pakete verschickt werden, die alle ein Etikett benötigen. In der Auto- und in der Pharmaindustrie werden zur Rückverfolgung viele Etiketten mit Seriennummern verklebt. In der Logistik müssen Paletten immer wieder neu gekennzeichnet werden. Da gibt es sehr viele Anwendungsszenarien. 

Dr. Carsten Rückert, Geschäftsführer der Wilhelm Dreusicke GmbH & Co. KG

So wie Sie den Wandel von Produkten für Schreibmaschinen hin zu Produkten für Automaten schildern, war es gar nicht so schwierig, wieder neue Geschäftsmöglichkeiten zu finden?

Carsten Rückert: Nein, nein, so einfach war es nicht, und wer wirklich innovativ sein will, muss auch einmal mit Misserfolgen umgehen können. Wir hatten zunächst versucht, Ersatzteile für die Büromaschinenindustrie selbst zu produzieren – also insbesondere für Drucker. Das hat nicht funktioniert. Wir haben dann aber passende Großhändler gefunden und mit ihnen Geschäftsbeziehungen aufgebaut. Es ist gar nicht so einfach, immer die richtigen Ersatzteile zu identifizieren. Wir haben das aber gut hinbekommen und uns bei Herstellern einen Namen aufgebaut und sind zum Beispiel von Epson als Partnerunternehmen autorisiert worden. 

So sind Sie dann selbst zum Händler geworden.

Ingo Rückert: Richtig. Uns kam damals zugute, dass wir durch die Geschäfte mit Schreibmaschinen sehr international aufgestellt waren. Wir haben weltweit an Serviceorganisationen verkauft und gute Kontakte gehabt. So konnten wir auch viele wichtige Handelsbeziehungen in den USA aufbauen; von dort haben wir sehr viele Teile importiert. Diese Zeit, Ende der Neunzigerjahre, war sehr stressig. Es lief alles über das Telefon. Es klingelte auch sehr spät noch, weil Techniker dringend Ersatzteile für ihre Drucker brauchten. Das Internet spielte damals ja noch keine große Rolle.

Carsten Rückert: Bis zum Jahr 2003 war dann aber auch schon wieder der Höhepunkt erreicht. Die Hersteller haben das Geschäft selbst unter ihre Kontrolle gebracht. In dem Moment, in dem ein Geschäft reif geworden ist, geht der Niedergang schon wieder los, und man muss sich wieder etwas Neues überlegen.

Was haben Sie sich dann überlegt?

Ingo Rückert: Wir haben dann angefangen, E-Procurement für Unternehmen anzubieten – also geschlossene Internetshops, in denen die Einkäufer oder Techniker alles bekommen, was sie im Kundendienst für elektronische und feinmechanische Geräte brauchen.

Carsten Rückert: Es ist im Grunde mehr als ein Shop. Wir programmieren auch Schnittstellen zu den Beschaffungsstellen der Unternehmen und gliedern uns in die Lieferkette ein. Wir liefern auch kleine Mengen und richten uns sehr stark nach den Bedürfnissen der Einkäufer unserer Kunden. So haben wir mittlerweile ein Sortiment von 30.000 Produkten. Produkte, bei denen wir uns sehr gut auskennen, produzieren wir selbst.

Sie haben also auch im Handelsgeschäft schon einen Innovationsprozess durchlebt. 

Ingo Rückert: Ja, das Handelsgeschäft hat sich kolossal gewandelt. Wir verkaufen auch Werkzeuge, Messgeräte und Reinigungsmaterialien für die Servicetechniker, die die Ersatzteile einbauen. Wir müssen immer sehr schnell und an den richtigen Ort liefern – gleich morgens an die Privatadresse oder direkt an den Einsatzort. Etwa 2.000 Produkte haben wir selbst auf Lager, die restlichen 28.000 sind in der Regel bei unseren Lieferanten sofort verfügbar. 

Dr. Ingo Rückert, Geschäftsführer der Wilhem Dreusicke GmbH & Co. KG

Wie kam es zum Einstieg in die Robotik?

Carsten Rückert: Durch Neugier – das ist ein ganz wichtiger Innovationsfaktor. Die Neugier darf nicht sterben. Wir wollten wissen, wie wir einen „Cobot“, also einen kollaborierenden Roboter, der auf Mitarbeiter Rücksicht nehmen kann, weil er mit Sensoren und entsprechender Programmierung ausgestattet ist, in unsere Produktion integrieren können. 

Ingo Rückert: Außerdem wollten wir durch die Automatisierung den rückläufigen Mengen im Geschäft mit den Gummiwalzen begegnen, um bessere Preise bieten zu können und so wieder mehr Aufträge einzusammeln. Nach dem Kauf des Roboters war eigentlich geplant, für die nächsten Schritte einen Lösungsanbieter dazuzuholen. Aber das lief nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Also mussten wir uns das Know-how selbst erarbeiten. Durch diese Erfahrungen haben wir erkannt, dass es eine Lücke im Markt für einen solchen Lösungsanbieter gibt und wir in der Lage sind, sie zu füllen.

Carsten Rückert: Wir wollten sowieso ein neues Geschäftsfeld entwickeln, in dem wir kein reiner Zulieferer sind, sondern in der Wertschöpfungskette weiter nach oben steigen. Also haben wir anderen Firmen angeboten, für sie Roboter zu implementieren. Dann haben wir auch ein bisschen Glück gehabt: Der Hersteller Universal Robots wollte sich vom bisherigen Lösungsanbieter für Berlin trennen, und wir konnten der neue zertifizierte Partner werden. Das hat uns viele Tore geöffnet. 

Man braucht einen Plan, gute Mitarbeiter und Geld.“
Carsten Rückert Geschäftsführer

Wie haben Sie sich die Kompetenzen angeeignet?

Ingo Rückert: Das ist eigentlich nichts Besonderes für uns. In einem Technik-Betrieb muss man jeden Tag lernen. Wir lesen sehr viel im Internet und in Fachmagazinen, besprechen uns sehr intensiv mit unseren technischen Mitarbeitern, gehen auf Messen, zu Netzwerkveranstaltungen. Und wir machen immer möglichst viel selbst. Wir haben auch ein eigenes Produktionsplanungssystem und eine eigene Software für das Customer Relationship Management programmiert.

Was sind Ihrer Ansicht nach weitere Schlüsselfaktoren, die dazu führen, dass Unternehmen innovativ bleiben?

Carsten Rückert: Aufmerksam bleiben und mit offenen Augen durch die Welt gehen, um Chancen zu erkennen. Und wenn man eine Chance entdeckt, darf man sie nicht vorbeiziehen lassen. 

Ingo Rückert: Zudem würde ich die Kommunikation mit Mitarbeitern nennen. Ein gutes Gesprächsklima hat eine sehr große Bedeutung. Die Innovationen kommen ja nicht nur von uns Geschäftsführern. Wir diskutieren sehr oft neue Ideen mit unseren Mitarbeitern. Man muss dazu sagen: Wer zu uns kommt, bleibt in der Regel auch bei uns. Dadurch haben wir sehr viele Mitarbeiter, die bestens vertraut sind mit unseren Produkten, Produktionsprozessen und Vertriebswegen. 

Carsten Rückert: Im Grunde sind es drei Faktoren, die für Innovation zusammenkommen müssen: Man braucht einen Plan, gute Mitarbeiter und Geld. 

Innovation braucht eine offene Gesprächskultur, Vertrauen und Freiräume.“
Ingo Rückert Geschäftsführer

Woher bekommen Sie das Geld? Von Banken?

Ingo Rückert: Banken gehen nicht so gern ins Risiko. Wir finanzieren Innovation eher über Anzahlungen von Kunden und Gewinne aus der Vergangenheit. Mit mehr Geld könnten wir natürlich noch mehr machen, aber dabei muss man bedenken, dass wir gleichzeitig immer auch das Wissen aufbauen müssen. Bislang brauchten wir noch nicht zwingend Geld von Banken für Innovation.

Was würden Sie jungen Unternehmern raten, die eine Innovationskultur aufbauen wollen?

Ingo Rückert: Zuerst muss man sich die Unterstützung der Mitarbeiter sichern. Innovation braucht eine offene Gesprächskultur, Vertrauen und Freiräume.

Zu den Personen

Dr. Carsten Rückert hat an der Technischen Universität Berlin von Oktober 1987 bis September 1997 Maschinenbau studiert und promoviert. Anfang 2001 stieg er in die Geschäftsführung der Wilhelm Dreusicke GmbH & Co. KG ein.

Dr. Ingo Rückert ist seit April 1999 in der Wilhelm Dreusicke GmbH & Co. KG tätig. Zuvor hat er zwei Jahre wissenschaftlich am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie gearbeitet. An der TU Berlin hat er Physik studiert.