Für den Taxifahrer war es die erste Fahrt von Berlin nach Schönefeld seit April. Natürlich habe er sich über den lukrativen Auftrag gefreut, sagt der Berliner, der dem neuen Großflughafen allerdings so gar nichts abgewinnen kann: „Ich hoffe, dass es nicht klappt.“ Tegel sei perfekt erreichbar, bei Stau könne man über diverse Routen ausweichen. „Zum BER führt nur die A100. Ist die voll, haben Sie Pech.“ Auch um seine Umsätze fürchtet der Taxifahrer. 25 Euro nach Tegel könnten sich viele leisten, 45 Euro nach Schönefeld schon deutlich weniger. Einziger Lichtblick: Nach acht Jahren Streit wurde Mitte September vereinbart, dass auch Berliner Taxen am BER Fahrgäste aufnehmen dürfen.
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Airlines und natürlich die Flughafengesellschaft, allen voran ihr Chef Engelbert Lütke Daldrup, seit 2017 im Amt, können es hingegen kaum erwarten. „Nach menschlichem Ermessen dürfte jetzt nichts mehr schiefgehen“, sagt Lütke Daldrup im Interview mit der Berliner Wirtschaft (siehe Seite 30). Nach fast 14 Jahren turbulenter Bauzeit mit Planungsfehlern, Baumängeln, langwierigen Sanierungen und Chefwechseln soll der neue Großflughafen – offiziell: Flughafen Berlin Brandenburg Willy Brandt, besser bekannt unter seinem offiziellen IATA-Code BER – an den Start gehen.
Bis zuletzt bleibt es spannend. Im April 2020 ließ Lütke Daldrup zwar wissen: „Die Inbetriebnahme des BER war noch nie so sicher.“ Schon da hatte aber der Corona-Lockdown die Stadt fest im Griff. Man blieb zu Hause, niemand flog. Ob Berlins neuer Airport tatsächlich mit fast neun Jahren Verspätung und insgesamt sieben Verschiebungen von Eröffnungsterminen ausgerechnet in der seit dem Zweiten Weltkrieg schlimmsten Krise der Luftfahrt an den Start geht, darüber wurde bis zuletzt heftig spekuliert.
Trotz Pleiten, Pech und Pannen, resümierte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nach einer ersten Besichtigung Ende Juli: „Es stimmt, dass in China oder Istanbul weit größere Airports in vier Jahren aus der Erde gestampft wurden, aber die Ergebnisse sind mit dem BER nicht zu vergleichen. Bei allem Spott: Berlins neuer Flughafen ist eine perfekt konzipierte, perfekt konstruierte Maschine.“ Was bedeutet der neue Großflughafen für die Region und die Unternehmen? Wo hakt es? Welche Potenziale sehen Wirtschaft, Wirtschaftsförderer und Wissenschaftler?
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BER ermöglicht Wachstum
Gefahr im Verzug war allemal. „An den bisherigen Standorten Tegel und Schönefeld ist faktisch kein Wachstum und damit auch keine Verbesserung der internationalen Mobilität mehr möglich“, heißt es in einer Studie des Leipziger Forschungs- und Beratungsunternehmens Conoscope und des Kowid Kompetenzzentrums für öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge im Auftrag der Flughafengesellschaft, die 2019 vorgelegt wurde. Im vergangenen Jahr waren 35,6 Millionen Passagiere von TXL und SXF in die Ferien oder auf Geschäftsreisen geflogen bzw. hier gelandet. Für das Jahr 2035 rechnete man am BER, dem dann drittgrößten deutschen Flughafen, der zum Start eine Gesamtkapazität von 46 Millionen Passagieren hat, mit bereits 50 Millionen Fluggästen.
„Prognosen sind aktuell wegen Covid-19 natürlich sehr schwierig“, räumt Conoscope-Geschäftsführer und Studienautor Thomas Lehr ein. Grundsätzlich könne man jedoch sagen, dass jede Stelle am Flughafen, also allen voran bei den Airlines sowie Wartung, Technik, Sicherheitsdiensten, der FBB und Einzelhändlern/Gastronomen eine weitere Stelle in der Region Berlin-Brandenburg schaffe, etwa bei Reinigungsdiensten, Baugewerbe, verarbeitendem Gewerbe und Unternehmensdienstleistern. „Die von den Flughafen-Mitarbeitern verdienten Einkommen fließen zudem in den regionalen Wirtschaftskreislauf, wovon Handel, Gastronomie und Immobilienwirtschaft profitieren“, ergänzt Oliver Rottmann, Vorstand des Kowid an der Universität Leipzig und Mitautor der Studie. Mit jedem Euro an Wertschöpfung, der am Flughafen erzielt werde, sei deshalb ein weiterer Euro verbunden.

Burkhard Kieker unterstreicht die Bedeutung für das Tourismus- und Tagungsgeschäft. „Für jede führende MICE-Destination ist eine möglichst vielfältige internationale Anbindung per Flug in der Vermarktung und für den Erfolg von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt natürlich auch für touristische Vernetzung. Der neue BER ermöglicht erstmals auch Transitverkehre, die in der bisherigen Flughafenstruktur mit den Flughäfen Tegel und Schönefeld leider nicht darstellbar waren“, sagt der Geschäftsführer von VisitBerlin. Mit dem BER werde zudem eine direkte Verbindung zum Netzwerk der Deutschen Bahn direkt unter dem Hauptterminal hergestellt und damit die innereuropäische Anbindung Berlins in Kombination mit Flugverkehren verbessert. Zum Wirtschafts- kommt der Standortfaktor. „Empirisch zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Innovation und Export bzw. internationaler Mobilität. Flughäfen tragen zur Steigerung der Standortqualität für Ansiedlungen und Investitionen bei“, so Cono- scope-Chef Lehr, der als ein entscheidendes Plus des neuen Standorts die Erreichbarkeit des BER nennt.
Die sieht Susanne Henckel als gegeben an, wenn Passagiere mit den „Öffis“ anreisen wollen, was laut Flughafenchef Lütke Daldrup schon heute das bevorzugte Verkehrsmittel ist. „Der ÖPNV aus Berlin und Brandenburg zum BER funktioniert. Der BER wird aus allen Richtungen für Fluggäste wie auch die Beschäftigten gut mit Bussen und Bahnen erreichbar sein“, unterstreicht die Geschäftsführerin der VBB Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg GmbH und hebt die gleichzeitig im nationalen und internationalen Vergleich günstigen Tarife hervor (siehe Kasten Seite 22).
Noch werden bestehende Doppelstockwagen zum neuen Flughafenexpress (FEX) aufgemöbelt und neu lackiert, doch zum 1. November sollen sie pünktlich auf die Schiene gehen. Neben dem FEX sei der BER auch mit IC-, Regionalverkehrs-, S-Bahn- und vielfältigen Busverbindungen direkt über die Bahnhöfe an Terminal 1–2 bzw. Terminal 5 an Berlin und das Umland angebunden, so Henckel. Sukzessive kommen weitere Verbindungen hinzu. Nach dem Wiederaufbau der 1875 erstmals gestarteten Dresdner Bahn schließlich könnte der FEX dann durch den Süden Berlins vergleichsweise direkt zum BER fahren, statt den Umweg über die Berliner Ringbahn zu nehmen. „Von 2025 an soll sich die Fahrtzeit von 30 auf rund 20 Minuten verringern“, sagt die VBB-Chefin.
IHK warnt vor Verkehrskollaps
Der IHK Berlin geht das nicht weit genug. Von einem „programmierten Stau“ warnt die Kammer, aus deren Sicht die Verkehrsanbindungen so schlecht sind, dass sie nach einer Verkehrs- und Engpassanalyse zur Verkehrsinfrastruktur im Flughafenumfeld gleich zwölf Forderungen in einem Papier zusammenstellte. Eine der Kernaussagen: „Ohne die Ausweitung und Verbesserung des ÖPNV wird die Fahrt zum Flughafen für manche Gäste länger dauern als der Flug selbst“, moniert Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der IHK Berlin. Die U7 ist daher nach Ansicht der IHK Berlin dringend erforderlich. Der ÖPNV müsse zudem zwischen 3 und 4 Uhr den BER bedienen.

Weitere Forderungen: Attraktive Tarifoptionen wie ein 365-Euro-Ticket oder ein Kombiticket aus Flug und ÖPNV könnten dazu beitragen, dass mehr Passagiere zum Umstieg auf die Bahn bereit seien. Die Betriebsstabilität müsse durch Fahrzeug- und Fahrerreserve sowie zusätzliche Abstellanalgen und Einsetzpunkte gesteigert werden. „Aber auch bei der Straßenanbindung zeigt sich, dass es nicht nur reicht, die Baumaßnahmen wie die Tangentiale Verbindung Ost oder die Süd-Ost-Verbindung im Stadtentwicklungsplan Verkehr niederzuschreiben, es braucht auch einen deutlich stärkeren Umsetzungswillen durch den Senat.“
Auch die Zahl der internationalen Direktverbindungen nennt Wissenschaftler Lehr als ein Erfolgskriterium für den BER. Wie wichtig diese sind, zeigt ein Beispiel aus der Wirtschaft. In Oberschöneweide arbeitet Claus Biernoth. Rund 17 Kilometer muss der Vice President Sales and Marketing der First Sensor AG künftig zurücklegen, um den BER zu erreichen. Dessen Eröffnung treibt den Manager zwar deutlich weniger um als ein anderes Top-Ereignis. Und doch hängen das eine und das andere Event eng zusammen. Im März dieses Jahres gab der Spezialist für Sensorik bekannt, dass der Weg frei sei für den Zusammenschluss mit der amerikanischen TE Connectivity Ltd. mit weltweit rund 80.000 Beschäftigten. Bei First Sensor sind es aktuell knapp 1.000, von denen 450 am Hauptsitz sowie der Halbleiterproduktion in Oberschöneweide und am Packaging-Standort in Weißensee optische Sensoren und Drucksensoren für nationale und internationale Kunden entwickeln und produzieren.
„Von neuen Direktverbindungen würde der Wirtschaftsstandort Berlin profitieren, da bei Neuansiedlungen oder Standorterweiterungen künftig auch logistische Gründe für die Hauptstadt sprechen“, sagt Biernoth. Gewinnen würde dann auch der regionale Arbeitsmarkt. Denn neben einem regelmäßigen Kontakt zu Kunden sei für international tätige Unternehmen wie First Sensor ein intensiver Austausch mit der weltweiten Belegschaft unerlässlich. „Umso wichtiger sind für uns Interkontinentalflüge, mit denen uns unsere Mitarbeiter, aber auch unsere Kunden und wir die Hightech-Hotspots in China, Korea, Japan, aber auch Nordamerika direkt erreichen können.“ Der Manager ist überzeugt: „Viele Beschäftigte haben zwar gelernt, digital besser zusammenzuarbeiten, aber ohne den persönlichen Kontakt geht es nicht, vor allem, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen.“

Die Bedeutung von direkten Interkontinentalflügen belegt auch eine im Mai 2019 veröffentlichte Umfrage der Initiative für mehr Langstreckenverbindungen, die von den Top-Wirtschaftsverbänden und Vertretungen aus Berlin und Brandenburg getragen wird. Wichtigstes Ergebnis: „Fast drei von vier befragten Betrieben waren unzufrieden mit dem außereuropäischen Flugangebot ab Berlin-Brandenburg.“ Besonders gefragt: Verbindungen nach Asien und Nordamerika.
Gateway in Zentraleuropa
Doch solange die Pandemie die Welt in Atem hält, ist die Nachfrage am Boden. „Es werden im Moment etwa 95 Prozent weniger Interkontinentalstrecken geflogen als vor Corona-Zeiten“, sagt Lütke Daldrup. Für das Gesamtjahr rechnet er an den Berliner Flughäfen mit insgesamt nur zehn Millionen Passagieren nach 35,6 Millionen im Vorjahr. Langfristig, glaubt VisitBerlin-Chef Kieker jedoch, dass Berlin gute Chancen habe, sich mit dem BER als Gateway in Zentraleuropa neu zu positionieren und auch neue, für das Tourismus-und Kongressgeschäft wichtige Langstreckenverbindungen zu akquirieren.
Das Potenzial des BER sieht auch Stefan Franzke, der Geschäftsführer von Berlin Partner. „Im Vorfeld sind bereits viele Immobilienprojekte im sogenannten Airport-Korridor zwischen BER und Berliner Hauptbahnhof entwickelt worden. Zudem haben sich zahlreiche Unternehmen angesiedelt. Das wird nach der Eröffnung noch zunehmen“, ist der Berlin-Vermarkter überzeugt. Insbesondere werden es Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, Informations- und Kommunikationstechnologie, Verkehr/Mobilität/Logistik, Optik/Photonik, Industrieller Produktion, Energietechnik und Dienstleistungswirtschaft sein.
Prominentestes jüngstes Beispiel ist die Ansiedlung des US-Autokonzerns Tesla, der in Grünheide, rund 30 Kilometer östlich vom BER, auf einem 300 Hektar großen Gelände für gut eine Milliarde Euro seine erste Fabrik in Europa baut und 12.000 Menschen beschäftigen will. Schon im Sommer 2021 sollen die ersten Elektrofahrzeuge vom Band rollen. Eine Großinvestition, die weitere nach sich zieht wie den US-Batteriesystemhersteller Microvast, der in Ludwigsfelde eine neue Fabrik baut und seine Europazentrale von Frankfurt am Main nach Brandenburg verlegt. Aber auch die Ankündigung etwa des Immobilienunternehmens Eyemaxx Real Estate Group zeigt, dass trotz Pandemie weiterhin gesucht und gebaut wird. Mitte Juli hatte das Unternehmen bekannt gegeben, in Schönefeld unweit des BER vom zweiten Quartal 2021 an 28.000 Quadratmeter Bürofläche errichten zu wollen.
Ansiedlungen, von denen auch Berlin profitieren wird, etwa weil viele Beschäftigte aus der Stadt kommen werden. Klar ist aber auch: „Kein Unternehmen siedelt sich nur wegen des Airports hier an“, räumt Franzke ein. Neben der Erreichbarkeit des Flughafens zählten auch die moderne Infrastruktur, die Nähe zu urbanen Strukturen, Verfügbarkeit von Talenten sowie die enge Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft.

Anders als viele Berliner, die Tegel gern als Airport behalten hätten, sehen die von der Krise extrem gebeutelten Airlines die vielen Vorzüge. Stephan Erler, Deutschlandchef von Easyjet, will seine Airline auch am BER als Nummer eins in Berlin und Brandenburg etablieren. Als der BER 2012 eröffnet werden sollte, war der 34-Jährige schon dabei und hat „dieses Mal ein signifikant besseres Gefühl bei der allgemeinen Performance“. Der neue Flughafen biete deutlich mehr Platz und damit mehr Komfort. Das Zusammenlegen zweier Airports an einem neuen Standort erleichtere zudem enorm die Flugplangestaltung und den Einsatz der Flugzeuge. Hinzu komme die deutlich bessere Verkehrsanbindung als in Tegel. „Das ist auf jeden Fall sehr gut für unseren Vertrieb, sowohl bei Ankünften als auch bei Abflügen.“ Deutlich mehr Effizienz als bisher erhofft sich die Airline bei der Abfertigung und dem Be- und Entladen des Gepäcks sowie an der Sicherheitskontrolle. „Das schauen wir uns sehr genau an.“
Am liebsten würde Erler jetzt mit der Vermarktung so richtig durchstarten. Doch wie viele Experten glaubt auch der Easyjet-Manager nicht, dass sich Luftfahrt und Tourismus vor 2023 oder 2024 voll erholen. Zwölf Millionen Fluggäste flogen und landeten mit der britischen Airline 2019 in Tegel und Schönefeld, was einem Marktanteil von rund 35 Prozent entspricht. 100 Destinationen in Europa, Nordafrika und Middle East hatte der Low-cost-Carrier, der vor drei Jahren einen großen Teil der insolventen Air Berlin übernahm, vor Corona angeflogen. „Vom 1. November an wollen wir 50 bis 75 Prozent davon wieder bedienen“, sagt der Deutschlandchef, dessen Flotte drei Monate am Boden stand. Inwieweit das gelingt, hängt nicht zuletzt von den meist extrem kurzfristigen Reisewarnungen ab, wie zuletzt für ganz Spanien. Fest steht: Das Reisejahr wird ein schwarzes, worauf auch die Briten reagieren. Ein Teil der mehr als 1.500 Arbeitsplätze am Standort Berlin-Brandenburg werde abgebaut, die Flotte von 34 Jets deutlich verkleinert.
Wie Erler ist Volker Greiner vom großen Potenzial des neuen Flughafens fest überzeugt. „Mit dem BER erhält Berlin die richtige Flughafeninfrastruktur, die Berlin als Weltstadt und Hauptstadt Deutschlands braucht“, sagt der Emirates Vice President North & Central Europe. Noch hofft die Airline aus Dubai auf Start- und Landerechte am BER. „Nach wir vor sind wir daran interessiert, nach Berlin zu fliegen, zusätzlich zu den vier bestehenden deutschen Abflughäfen. Wir glauben fest an das starke Potenzial von Berlin als profitabler interkontinentaler Markt, sobald sich die Luftverkehrsnachfrage wieder erholt hat.“ Vor allem für die Fluggäste aus den Nahen und Mittleren Osten, aus Asien sowie Australien sei Berlin ein besonders attraktives Reiseziel. Für die nähere Zukunft ist Erler vorsichtig optimistisch. Emirates verzeichne bereits einen kontinuierlichen Anstieg an Buchungen. Im August habe man 50 Prozent der Strecken angeflogen, die vor der Pandemie im Flugplan standen. Mit einem Nachfrageniveau wie vor der Krise rechnet er allerdings frühestens im Jahr 2022. Bis dahin dürften sich die Abläufe am BER eingespielt haben.