Als Zukunftsforscher, Politikberater und Techniksoziologe denkt Stephan Rammler über die Möglichkeiten nachhaltiger Mobilität in Ballungsräumen nach. Für den wissenschaftlichen Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung ist die Digitalisierung der Schlüssel zum Erfolg. Aber nicht, wenn sie privaten Autos mit Verbrennungsmotoren zugutekommt. Stattdessen müssen auf Basis digitaler Technologien komfortable intermodale öffentliche Verkehrsketten entstehen, meint er.
Berliner Wirtschaft: Braucht Berlin Ihrer Ansicht nach eine Vision?
Prof. Dr. Stephan Rammler: Eindeutig ja, so wie auch andere große Städte eine Vision brauchen und auch Deutschland und Europa insgesamt.
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Warum ist das so eindeutig?
Weil wir uns in einem extremen kulturellen, ökonomischen und technologischen Öffnungsprozess befinden. Getrieben durch globale Megatrends, verändert sich gleichzeitig so viel – mehr, als wir je erlebt haben. Wenn wir diese Veränderungen mit apokalyptischer Rhetorik begleiten, verweigern sich Menschen dem Wandel. Wir wissen das aus der Sozialpsychologie: Menschen nehmen neue Informationen nur an, wenn sie zu einem positiven Weltbild führen. Um gehört zu werden, müssen wir also positiv kommunizieren. Deshalb brauchen wir Visionen mit positiven Bildern über eine gelingende Zukunft.
In Deutschland? Wir wollen über Berlin sprechen.
Ja, aber die meines Erachtens sinnvollste Vision für Berlin leitet sich aus einer Vision ab, die wir für ganz Deutschland entwickeln können: Für mich bringt Deutschland alle Voraussetzungen mit, ein großes Reallabor für eine gelingende Zukunftstransformation zu werden. Wir haben Technologien, wir haben eine leistungsfähige Industrie, wir haben sehr viele gut ausgebildete Menschen, wir haben eine friedliche und solvente Gesellschaft und ein funktionierendes politisches System. Deutschland ist der Staat in Europa, der Nachhaltigkeit vorantreiben kann. Und Berlin ist die größte deutsche Metropole.
Und deshalb muss Berlin zeigen, wie die Welt nachhaltig wirtschaften kann?
Ja, Urbanisierung ist einer der Megatrends. In China werden in den nächsten zehn Jahren 300 Millionen Menschen vom Land in Ballungsräume ziehen. Das ist ungefähr die Bevölkerungszahl der USA. Überhaupt steigt die Weltbevölkerung bis 2050 auf zehn Milliarden Menschen an, mit der Folge einer weiteren Verdichtung in Städten. Die Menge in der Enge wird zum zivilisatorischen Normalzustand. Mobilität, Bauen, Energieerzeugung, Freizeit – alles muss unter der Bedingung der zunehmenden Knappheit organisiert werden. Wenn wir der Welt zeigen wollen, wie das geht, müssen wir das in Berlin tun.

Warum?
Berlin hat als Hauptstadt eine Schaufensterfunktion. Wenn wir hier Lösungen für eine nachhaltige Mobilität und Energieversorgung präsentieren, wird das wahrgenommen. Und als exportorientiertes Land müssen wir Lösungen für unsere wichtigsten Absatzmärkte entwickeln – also zum Beispiel Asien. Dort werden die Verbraucher immer mehr Konsumentscheidungen unter der Rahmenbedingung extremer Verdichtung treffen. Produkte, die wir dort absetzen wollen, müssen also dichtekompatibel sein.
An welche Produkte denken Sie?
Es werden jedenfalls auf Dauer keine großen Autos mit Verbrennungsmotor für den Privatbesitz sein, sondern intelligente, nutzungseffiziente, digital optimierte Mobilitätssysteme. Wenn wir solche Lösungen in Asien verkaufen wollen, müssen wir sie hier ausprobieren. Wir müssen hier auf die anwachsenden Mobilitätsströme reagieren und Anforderungen der Nachhaltigkeitstransformation berücksichtigen.
Wie können diese Mobilitätssysteme Ihrer Ansicht nach aussehen?
Wir müssen digitale Effizienz in die Mobilitätssysteme bringen. Das Rückgrat ist der öffentliche Verkehr, dessen Qualität wir erhöhen müssen und ohne den eine nachhaltige urbane Mobilität nicht funktionieren kann. Zum Beispiel können wir durch digitale Technologien höhere Taktzeiten und eine bessere Auslastung der Infrastruktur realisieren. Der nächste Schritt ist, den öffentlichen Verkehr über digitale Schnittstellen mit Angeboten für die Mikromobilität zu verbinden. Das können Fahrräder, Elektroroller oder auch Autos sein – aber nicht im Privatbesitz, sondern als Mobility as a Service.
Wir brauchen also mehr Sharing-Modelle.
Sharing ist zu wenig, wir müssen auch Poolen, also die Besetzungsrate in den Fahrzeugen erhöhen. Wir brauchen mehr Ridepooling-Shuttles – wie den Berlkönig –, die sieben oder acht Menschen der Reihe nach am Stadtrand einsammeln und zur S-BahnStation fahren. Das kann sehr effizient sein, wenn wir die Schnittstellen digitalisieren. Über eine Applikation auf dem Smartphone muss die ganze intermodale Verkehrskette automatisch geplant werden. Verbraucher folgen nur noch den Ansagen. Technologisch ist das alles machbar.
Warum funktioniert es dann noch nicht?
Es muss politisch gewollt und reguliert werden.
Also ist die Politik der Engpass.
Ich möchte nicht von Engpässen sprechen, sondern von Modernisierungsvorbehalten. Die Politik ist überfordert. Aber sie hat mein größtes Mitgefühl, weil sie hochkomplexe neue Dinge verstehen, bewerten und darüber entscheiden muss. Das Wissen, das in der Politikberatung dafür gebraucht wird, entsteht erst. Wir machen uns jetzt erst vertraut mit neuen digitalen Diensten, mit neuen Technologien und ihren Risiken. Politik muss jetzt zwar sehr schnell handeln, aber sie hat weder die Ressourcen noch die Wissenspotenziale dafür. Kein Wunder, wenn es große Unsicherheiten gibt.

Sind die Probleme anderswo als in der Politik zu lösen?
Nein, in allen Teilen der Gesellschaft besteht Unsicherheit und Unwissenheit, weil derzeit so viel Neues passiert, das schwer einzuschätzen ist – neue digitale Technologien, Erderwärmung, geopolitische Konflikte. Viele Menschen wollen deshalb, dass einfach alles so bleibt, wie es ist. Wir sind Gewohnheitstiere. Unser persönliches Sicherheitsempfinden und Wohlbefinden hat viel mit Ritualen und mit Regelmäßigkeit zu tun. Aber es ist nun einmal so, dass wir den Klimawandel, den demografischen Wandel und die Urbanisierung haben – auch in Berlin. In einer solchen Lage entsteht schnell ein Vakuum, das nur die Politik füllen kann.
Was kann Politik tun?
Sie muss sich informieren, Entscheidungen treffen und alle Bürger mitnehmen, indem sie transparent zwischen allen Interessen moderiert. Wir alle müssen uns weiterentwickeln. Evolutionsbiologisch betrachtet, leben wir alle mit Gehirnen, die darauf gepolt sind, unmittelbare Gefahren zu erkennen. Kollaborative, gemeinschaftliche Strategien gegen langfristige Gefahren für die Menschheit, die auf jahrzehntelange Planungshorizonte ausgerichtet sind, kennt die menschliche Zivilisation noch nicht. Wir fangen jetzt erst an, diese Fähigkeiten aufzubauen – zum Beispiel mit Visionen.
In Berlin wollen die Menschen vor allem wissen, wohin sie die Entwicklung der „wachsenden Stadt“ bringt. Welche Story haben Sie dafür?
Das Flächenproblem wird in Berlin tatsächlich das große Thema sein. Wir kommen in eine Phase der großen raumpolitischen Debatten. Alle Sektoren und alle Branchen konkurrieren zunehmend um den knappen Raum in der Stadt. Das ist eine sehr komplexe Lage. Die Politik muss hier moderieren und am Ende Entscheidungen treffen – aber auch Ängste nehmen. Ein Beispiel: Viele Einzelhändler haben Angst vor Umsatzeinbußen, wenn vor dem Geschäft keine Autos fahren. Aber das stimmt nicht.
Wirklich nicht?
Wir wissen aus Kopenhagen und Stockholm, wo der Autoverkehr sukzessive aus den Städten verbannt wird und der Fahrradverkehr dafür stark zunimmt, dass der Einzelhandel sogar erfolgreicher wurde. Ein anderes Beispiel ist die Elektromobilität. Wir wissen, dass die Akzeptanz von E-Autos um 60 Prozent steigt, wenn Menschen in direkten Kontakt mit ihnen kommen. Sie sehen dann, wie toll diese Fahrzeuge sind, spüren die Kompaktheit. Gut geschriebene Szenarien bauen Risikoaversionen ab und schaffen Bereitschaft zum Ausprobieren.
Sagen Sie uns als Zukunftsforscher doch mal, wie die Zukunft Berlins aussieht.
Das kann Zukunftsforschung nicht. Ich spreche sowieso lieber von Zukunftsanalytik, für die wir heute sehr gute methodische Möglichkeiten haben, zum Beispiel indem wir mit großen Datenmengen arbeiten. Aber wir können nicht sagen, welche Zukunft kommt. Wir können nur sagen, in welche Zukunft uns bestimmte Entscheidungen führen können. Am schönsten hat der amerikanische Visionär Richard Buckminster Fuller das erklärt: Die beste Möglichkeit, Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu gestalten. Das ist mein Credo. Deswegen ist die Frage nach der Digitalisierung jetzt so wichtig.
Warum?
Digitalisierung ist nicht per se gut oder schlecht. Jede Technologie ist zunächst ein blindes Instrument. Keine Technologie ist von vornherein programmiert oder hat eine Richtung in sich. Es geht um die Ziele, die wir mit der Digitalisierung erreichen wollen. Wenn Digitalisierung nur die Infrastrukturen der fossilen Zeit modernisiert, wirkt sie wie eine Art Brandbeschleuniger und macht das, was schlecht ist, noch schlechter. Wenn wir mit ihr aber nachhaltige Lebensstile fördern, schaffen wir Lösungen für die drängendsten Probleme dieser Zeit.

Wie wichtig ist eine Digitalisierungsstrategie für Berlin?
Sehr wichtig. Digitalisierung kann vieles sein: Robotik, künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Konnektivität, Big Data, Augmented Reality. Da gibt es unterschiedliche Innovationslinien, die sich sehr komplex aufeinander beziehen. Diese Technologien können wir so oder so einsetzen. Ich halte es zum Beispiel für bedenklich, das digitale Management unserer Daseinsvorsorge den großen Datenkraken zu überlassen. Wir brauchen stattdessen Daten-Sharing-Modelle und Leitbilder für Berlin, damit digitale Innovationsprojekte auf die gewünschten Ziele ausgerichtet werden.
Muss Berlin wachsen, oder hat die Politik auch eine Alternative dazu?
Stadtpolitik sollte nicht so weit gehen, zu entscheiden, wie viele Menschen wo leben dürfen. Das wäre eine planwirtschaftliche Komponente, von der ich nichts halte. Menschen sollten frei im Rahmen von Angebot und Nachfrage über ihren Lebensmittelpunkt entscheiden können. Politik hat die Aufgabe, im Rahmen des Möglichen adäquate Lebensbedingungen für alle zu schaffen – und zwar für die, die schon in der Stadt sind, und auch für die, die kommen möchten. Menschen wollen dort leben, wo sie interessante Jobs finden – und das sind die Städte.
Hat Politik keine Steuerungsmöglichkeiten?
Doch. Vielleicht wäre es vor Dekaden klüger gewesen, auch ländliche Räume stärker zu fördern. Aber der Staat hat sich eben aus solchen siedlungspolitischen Steuerungsthemen zurückgezogen. Es ist nicht zwangsläufig so, dass Menschen Städter sein wollen. Wenn in Brandenburger Regionen die digitale Infrastruktur ausgebaut wird, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sich Firmen dort engagieren und in guter Erreichbarkeit von Berlin dort Mitarbeiter ansiedeln.
Ist die Verdichtung in urbanen Räumen aus ökologischen Gründen begrüßenswert oder eher nicht?
In kompakten Siedlungsstrukturen kann ich Nachhaltigkeit natürlich viel besser umsetzen. Ich brauche darin keine fossile Automobilität. Ich muss aber natürlich die Dichte so organisieren, dass sie für den Menschen nicht zum Stressfaktor wird. Es muss auch auf die Gerechtigkeit geachtet werden, also auf den Zugang zu Wohnraum und auf Grünraum – auch den brauchen Menschen. Wenn das alles richtig orchestriert wird, können Städte zu sehr effizienten Räumen für nachhaltige Lebensweisen werden.
Was halten Sie von Bürgerbeteiligungen für die Stadtentwicklung?
Das ist unabdingbar. Kopenhagen beispielsweise hat sich schon vor 30 Jahren das Ziel gesetzt, eine klimaneutrale Stadt zu werden. Die Strategien dafür wurden sehr fein für einzelne Quartiere angepasst und in partizipativen Prozessen hinterlegt. Jedes Quartier ist ja anders. Die Projekte wurden mit den Bürgern gemeinsam umgesetzt. Partizipation ist ein wichtiges legitimitätssteigerndes Instrument, vor allem dort, wo wir komplexe von Technologien geprägte Innovationsprozesse haben.