Neuen Mitarbeitern empfiehlt Frank Pawlitschek gern einen kleinen Ausflug mit dem Elektroauto zum Gendarmenmarkt. Dort sitzt der Verband der Automobilindustrie, und ausgerechnet vor dessen Haustür hat der Chef von Ubitricity eine innovative E-Tankstelle installiert – platzsparend in einem Laternenmast. Kein Wunder, dass sich jedes Mal eine Traube staunender Passanten bildet, sobald der Fahrer den Ökostrom aus der Laterne zapft. Ein Selfie ist das vielen allemal wert. Noch hat dieser Schnappschuss Seltenheitswert. Doch von 2019 an wird das Tech-Start-up nach langem Ringen um Genehmigungen und Finanzierungen auch in der Hauptstadt durchstarten können und im Rahmen des „Sofortprogramms Saubere Luft“ bis zu 1.000 Ladepunkte in Laternen sowie ebenso viele in den Tiefgaragen von Immobilien einbauen.
Gute Nachrichten für den Standort
„Wir bieten eine Technologie an, die es den Autofahrern erlaubt, so günstig und effizient wie möglich im öffentlichen Raum zu laden und unkompliziert mit ihrem Stromversorger abzurechnen“, sagt Pawlitschek. „Mit unseren Ladepunkten wird Parkzeit zur Ladezeit.“ Für den CEO der Ubitricity Gesellschaft für verteilte Energiesysteme mbH ist der Start in Berlin allemal ein Durchbruch. In London zeigt sein Unternehmen schon in 13 Bezirken Flagge, hat gerade eine große Ausschreibung mit Siemens für weitere Ladestationen gewonnen. In Frankreich arbeitet man Seite an Seite mit dem Stromriesen EDF, der wie Siemens an Ubitricity beteiligt ist. „Jetzt freuen wir uns auf Berlin“, sagt der Chef. Einmal mehr eine gute Nachricht für den Standort und sein Start-up-Ökosystem.

Wäre Berlin ein junges Mädchen, würde es regelmäßig erröten. So viel Lob und Liebesbeweise kommen von allen Seiten. Als im Herbst 2018 Schlagzeilen die Runde machten, Nordrhein-Westfalen habe Berlin als gefragtester Start-up-Standort abgelöst, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. „Berlin bleibt klar der Standort Nummer eins in Deutschland“, konterte Florian Nöll, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Startups, dessen Deutscher Startup Monitor die Verwirrung erst ausgelöst hatte. Danach hatten 19 Prozent von 1.600 Start-ups ihren Sitz in NRW, während Berlin auf nur 16 Prozent kam. Diese Zahlen bezögen sich jedoch nur auf die befragten Unternehmen, ließen also keine Rückschlüsse auf die gesamte Branche zu, beeilten sich die Autoren der Studie klarzustellen.
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Ramona Pop, Berlins Wirtschaftssenatorin, sprang gleichsam in die Bresche. In der Berliner Digitalwirtschaft seien 2017 mehr Unternehmen gegründet worden als in Hamburg, München und Frankfurt zusammen. Insgesamt seien gut 88.000 Menschen angestellt, mehr als in jeder anderen deutschen Großstadt. Aktuell seien es 9.000 Start-ups mit mehr als 100.000 Mitarbeitern, schätzt Nöll.
600 Mio. Euro für den Siemens-Campus
„Das eindrucksvollste und medienwirksamste Votum für den Gründer-Hotspot an der Spree gab jedoch wenige Tage später Siemens ab. 600 Mio. will der Technologieriese in einen Innovationscampus auf historischem Industriegelände in Siemensstadt pumpen. Besser geht’s nicht. Könnte man meinen. An Herausforderungen mangelt es nämlich keinesfalls. „Die Personalplanung und -rekrutierung stellen die größte Hürde für Start-ups im Raum Berlin dar“, bilanziert eine im September 2018 erschienene Studie des Beratungsunternehmens PwC. Größte Hemmnisse: zu hohe Gehaltsforderungen und Fachkräftemangel. „Es ist vor allem schwierig, nicht-europäische Fachkräfte in die Stadt zu holen“, sagt Oliver Schimek, Geschäftsführer des Fintechs CrossLend. Laut Berlin Startup Monitor kritisiert die Hälfte der Jungunternehmen bürokratische Hürden vor allem für ausländische Mitarbeiter. Immerhin kommt bei ihnen jeder zweite Beschäftigte aus dem Ausland, so auch bei CrossLend.

Praktische Hilfe bietet der Business Immigration Service der IHK Berlin, der ausländische Unternehmen, qualifizierte Fachkräfte und deren Familien bei allen aufenthaltsrechtlichen Fragen etwa zu Firmengründung und Arbeitserlaubnis berät.
Als weiteren Nachteil wertet die Branche die Versorgung mit schnellem Internet. 62 Prozent der vom Deutschen Startup Monitor Befragten bezeichneten dies als wichtig für die Standortwahl. Laut einer Studie des Portals Testberichte.de hat die Hauptstadt jedoch die langsamsten Internetverbindungen unter den deutschen Großstädten. Mit einer Downloadgeschwindigkeit von 33 Mbit/s liege Berlin unter allen untersuchten Städten auf Rang 78.
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Mit Blick auf die Behörden wünschen sich die Start-ups zudem weniger Bürokratie im ersten Gründungsjahr, eine Vereinfachung der Buchhaltung und das Einrichten eines One-Stop-Shops, der als zentrale Anlaufstelle für Antrags-, Genehmigungs- und Besteuerungsverfahren fungiere. Last but not least: Dass Google ausgerechnet in der Frontstadt der Start-ups damit scheiterte, in Kreuzberg einen Startup-Campus zu eröffnen, brachte national und international schlechte Presse.
Von Gründerzentren bis Acceleratoren
Noch steht der Standort gut da und hat sich vor allem eindrucksvoll entwickelt. Binnen weniger Jahre ist ein Ökosystem mit maßgeschneiderten Einrichtungen entstanden aus landeseigenen Technologie- und Gründerzentren, diversen privaten Start-up-Campussen, Coworking Spaces, Acceleratoren, Business Angels und Investoren, Seriengründern, die das Geld aus Verkäufen in neue Start-ups investieren, ebenso wie Dependancen vieler DAX-Konzerne, die hier die Nähe zu den innovativen Köpfen suchen und umgekehrt. „Die gute Infrastruktur für Forschung und Entwicklung ermöglicht zudem einen schnellen Technologie- und Wissenstransfer“, unterstreicht Rasmus Rothe, Vorstandsmitglied im KI Bundesverband, der den Einsatz einer der wichtigsten Zukunftstechnologien, der künstlichen Intelligenz (KI), fördert. Darüber hinaus tragen Messen, Medien sowie Förder- und Beratungsangebote, darunter die der IHK Berlin, in der Hauptstadt zu einem Gründerklima bei, das laut PwC-Studie im Jahr 2018 fast 60 (2017: 38) Prozent der Befragten „sehr gut“ fanden.
Start-ups fehlt das schnelle Internet
Mike Butcher, Redakteur beim Londoner Magazin „TechCrunch“, beobachtet die Berliner Szene seit gut zehn Jahren. „Diese junge und hungrige Metropole hat es perfekt verstanden, aus ihrer Ausgangssituation das Beste zu machen. In der industrieschwachen Stadt mit dem großen öffentlichen Sektor sowie zahlreichen kulturellen und kreativen Unternehmen hat sich die junge Tech-Branche hervorragend breitgemacht.“ In London gebe es zwar Europas größte Tech-Szene, aber andere Städte hätten aufgeholt. „Berlin wird dabei am häufigsten mit London verglichen.“ Nur logisch, dass seit 2017 die renommierte Konferenz TechCrunch auch in Berlin ausgerichtet wird.
Waren es vor zehn Jahren vor allem Onlinehändler wie Zalando aus dem Start-up-Inkubator der seitdem hyperaktiven Seriengründer-Brüder Samwer, B2C-Plattformen wie Delivery Hero, beide inzwischen börsennotiert, App-Entwickler wie das Start-up 6Wunderkinder (To-do-Listen), das Microsoft den sechs Gründern für 183 Mio. Euro abkaufte, sowie Spezialisten für digitales Marketing und Cloud Computing, die den Grundstein für den Boom legten, geht heute der Trend zu neuen Technologien und Deep Tech.

So bescheinigt der jüngste Global Startup Ecosystem Report Berlin besondere Stärken bei Fintechs, Internet of Things (IoT), Blockchain- und Kryptowährungs-Technologie, KI sowie bei den Branchen Gesundheitswesen und Life Sciences. Das Bundeswirtschaftsministerium wählte denn auch Berlin als digitales Kompetenzcenter für IoT & Fintechs aus – als einen von insgesamt zwölf Hubs, mit denen digitale Schwerpunkte in Deutschland gefördert werden sollen. Zu dessen Berliner Trägern gehören neben dem Wirtschaftsförderer Berlin Partner die umtriebigen Berliner Company Builder Next Big Thing (IoT, Blockchain) sowie Finleap (Fintechs).
Auf das Potenzial von KI setzt zum Beispiel Sofie Quidenus-Wahlforss mit ihrem 2015 gegründeten Start-up Omni:us (Qidenus Group GmbH). Das analysiert – ganz digital – Schadensmeldungen von Versicherungen. Zu ihren Kunden zählt die 36-Jährige, die das US-Magazin „Forbes“ kürzlich zu einer der „50 Women in Tech Europe“ kürte, mit der Allianz immerhin die deutsche Nummer eins der Branche.
Dass die gebürtige Österreicherin in Berlin gründete, hat nicht nur mit der Liebe ihres Lebens zu tun. „Die Start-up-Szene der Stadt hat mich wie ein Magnet angezogen, genauso wie das große Ökosystem mit anderen Gründern. Wir sind zudem sehr stolz darauf, in einer Mannschaft von 50 Leuten 24 Nationalitäten zu haben.“ Ganz ungetrübt ist die Freude aber nicht. „Wir mussten aus Mitte nach Moabit ziehen, weil die Mieten dort zu hoch waren.“ Nicht nur die Wege der Mitarbeiter, auch die zu den Kunden sind seitdem etwas länger.
Positive Signale senden dafür die Investoren. Quidenus-Wahlforss gelang jüngst die nach der Frühphase entscheidende Finanzierungsrunde „Series A“. 14 Mio. Euro sammelte sie für ihr Unternehmen ein. Dieselbe Summe bekam das Fintech CrossLend, das sich im Sommer 2018 den Risikokapitalgeber Earlybird und die Berliner Solarisbank an Bord holte. Auch die niederländische ABN Amro Bank stieg ein. Das Kapital nutzt CEO Schimek, um die europäische Expansion voranzutreiben und den Vertrieb zu stärken. Bis 2020 hofft der gebürtige Berliner, auf dessen Plattform Banken Kredite verbriefen, um sie dann als Wertpapiere an Investoren zu verkaufen, auf ein jährliches Transaktionsvolumen von fünf Mrd. Euro. Zu seinen ehrgeizigen Plänen zählt auch der Aufbau einer europäischen Kreditbörse für den Wertpapierhandel. An Berlin schätzt Schimek kurze Wege zu Investoren. „Der persönliche Kontakt zu den Kapitalgebern ist unerlässlich, da die Sachverhalte schlicht zu kompliziert für Telefonate sind.“
„Immer mehr Jungunternehmen erhalten frisches Kapital, die Investitionsbereitschaft der Kapitalgeber bleibt hoch, und zunehmend werden auch sehr hohe Summen investiert“, urteilte Peter Lennartz, Partner bei EY bei der Vorlage des Start-up-Barometers Europa im Oktober 2018, und wertet dies auch als Beweis für die zunehmende Stärke des gesamten europäischen Start-up-Ökosystems. Noch nie hätten europäische Start-ups in einem ersten Halbjahr so viel frisches Kapital erhalten wie im vergangenen Jahr. Insgesamt flossen 10,2 Mrd. Euro (plus 27 Prozent). Mit zwei Mrd. Euro liegt London immer noch weit vorn. Platz zwei belegt wie im Vorjahr Berlin (1,6 Mrd.), gefolgt von Paris (1,4 Mrd.). In Deutschland gehe nach wie vor viel Geld in E-Commerce-Geschäftsmodelle, beobachtet Lennartz. So war der größte Deal des ersten Halbjahres die Investition der japanischen Softbank in die Berliner Gebrauchtwagenplattform Auto1 (460 Mio. Euro).
Lennartz erwartet allerdings auch hierzulande ein Umdenken. Gerade im Fintech-Bereich bewege sich viel. Mit 160 Mio. Dollar hatte die Berliner Smartphone-Bank N26 im März 2018 immerhin die bis dato größte Eigenkapitalfinanzierung eines deutschen Fintechs gestemmt. Und im November 2018 beteiligte sich das chinesische Versicherungsunternehmen Ping An, der nach Marktkapitalisierung größte Versicherer der Welt, mit 41,5 Mio. Euro an der Berliner Fintech-Schmiede Finleap.
Auch andere Technologie-Start-ups würden künftig leichter an Kapital kommen, glaubt Lennartz. „Unternehmen aus den Bereichen Software & Analytics inklusive Blockchain und Künstliche Intelligenz sowie Mobilität werden immer interessanter, da sie bei der digitalen Transformation traditioneller Industriebranchen helfen können – und somit von den großen Trends Industrie 4.0 sowie Elektromobilität/Autonomes Fahren profitieren können.“
Kein Wunder, dass die Konzerne die Nähe zu den Start-ups suchen. Rund 60 Prozent der deutschen DAX-Konzerne haben mittlerweile Innovationslabore in Berlin eröffnet, um neue und etablierte Industrie zu verbinden. Da trifft es sich gut, dass bevorzugter Kooperationspartner der Start-ups laut PwC-Studie die etablierten Unternehmen sind. Zu den Newcomern an der Spree gehört zum Beispiel der Bosch-Konzern, der Anfang 2018 einen IoT-Campus im Tempelhofer Hafen eröffnete, um „Brücken zwischen unseren eigenen und weiteren IoT-Experten der Kreativ- und Digitalszene Berlins zu bauen“, wie Bosch-Chef Volkmar Denner sagte.

Soziale Start-ups zwischen den Techies
Inmitten der Techies fühlen sich auch soziale Start-ups wohl. Zum Beispiel die share GmbH, die Mineralwasser, Müsliriegel und Handseife unter der Marke „share“ herstellt und in 5.000 Rewe- und dm-Märkten anbietet. Für jedes verkaufte Produkt bekommen Menschen in Not ein gleichwertiges Produkt. Das gute Ökosystem, die Dynamik der Stadt und die hohe Lebensqualität haben Geschäftsführer Sebastian Stricker nach dem Verkauf seines ersten Start-ups an die UN überzeugt, auch mit seinem zweiten Unternehmen hierzubleiben. „Gern wären wir allerdings in einem Coworking Space gestartet, haben aber keine geeignete Fläche gefunden. Das ist in London und Paris definitiv einfacher“, sagt der gebürtige Österreicher, der 2014 die Non-Profit-Organisation ShareTheMeal gegründet hatte, eine App, die globalen Hunger bekämpft. Mit einem Klick in der App werden 40 Cent gespendet, die ein Kind für einen Tag lang ernähren. 2015 wurde ShareTheMeal im Rahmen der zweiten Finanzierungsrunde an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen angegliedert. Mit dem Start der share GmbH schied Stricker schließlich 2017 aus.
Positives und Negatives liegen eng beieinander
Wie eng Positives und Negatives in Berlin beieinanderliegen, haben die Google-Absage und die fast gleichzeitige Siemens-Zusage eindrucksvoll bewiesen. In Siemensstadt will Siemens auf einem Campus mit Forschungslaboren und Hightech-Produktionsanlagen für Start-ups Old und New Economy verzahnen. In Kreuzberg hatte es aus Angst vor Gentrifizierung massive Proteste gegen die Campus-Pläne von Google gegeben. Die Amerikaner überlassen jetzt das Gestalten ihrer Mietfläche der Online-Spendenplattform Betterplace und dem Verein Karuna, der sich für Kinder und Jugendliche in Not einsetzt. „Der Umgang mit Google hat bei vielen Unternehmen in- und außerhalb von Berlin für Befremden gesorgt“, sagt Henrik Vagt, Geschäftsführer Wirtschaft & Politik der IHK Berlin. „Die Stadt muss ihre Attraktivität für Start-ups und Innovationszentren großer Unternehmen immer wieder neu unter Beweis stellen. Besonders bedauerlich ist, dass ein großer Erfolg wie die Ansiedlung des Siemens-Innovationscampus in der Außenwahrnehmung durch den Fall Google unnötigerweise eingetrübt wird.“
Anderswo dürfte man das Google-Debakel aufmerksam verfolgen. Etwa in NRW, das sich mit Initiativen wie „Digitale Wirtschaft NRW“ profilieren will. Hamburg hat jüngst eine Fintech Agency gegründet. Für Tobias Kollmann, Professor für Unternehmertum an der Uni Duisburg-Essen und Leiter der Studie Deutscher Startup Monitor, steht denn auch fest: „Berlin liegt nach wie vor vorn. Aber der Abstand zu anderen deutschen Regionen wird kleiner. Die Stadt darf sich nicht auf dem ausruhen, was sich im Ursprung einmal von allein ergeben hat.“